Mittwoch, 5. April 2017

Vom Vergessen

Es kam schleichend, das Vergessen. Gespräche wurden mehrmals geführt. Gehörtes vergessen. Aber nun, sie wird älter, dachte ich. Die Brille war hier und da. Aber - war meine das nicht auch allzu oft schon? Fragte ich doch so häufig früher (bevor ich die geliebte, obergemütliche superverglaste Brille hatte) HerrnNebeL, wo denn meine Brille sei. Ganz normal vielleicht?!
Dann kamen die Zettel. Mal hier und mal da. Der Kalender nahm an Wichtigkeit zu. Die Zettel auch. Manchmal auch mehrere Zettel zu ein und demselben Thema. Und - wundersamerweise verschwanden auch die Zettel. Und weiterhin die Brillen. Gezogene Parkscheine verschwanden auch - und sie musste mehr als mehrmals den Tagessatz an Parkgebühr zahlen. Aber ich doch auch schon mal. Das kann ja mal passieren. Oder? 
Irgendwann war das Schönreden nicht mehr möglich. Und ganz eigentlich wussten wir schon lange, dass es ein Schönreden war. Heute vergisst sie, das Licht zu löschen. Überall. Vergisst, die Garage zu schließen. Vergißt Termine, trotz Kalender. Trotz Zetteln. Nicht immer. Aber immer wieder. Gespräche werden zur kaputten Schallplatte. Mal mehr, mal weniger. Wenn sie ein Kindelein einsammeln soll, kann ich mich nicht mehr darauf verlassen. Ich rufe sie vorher an, bitte sie, noch dies und das mitzunehmen, wenn sie das Kind irgendwo abholt, kurz bevor sie fahren muss. 
Geschenke, die sie verstaut, bevor der Anlass des Schenkens da ist, sind oftmals verschollen. 
Die Zusammenstellung der Wäsche hat sich verändert. Kaum mehr Ordnung, ein ziemliches Durcheinander. Sie wäscht seit jeher viel, auch für uns. Jeder Widerstand war zwecklos. Heute aber verursacht das phasenweise mehr Chaos als alles andere. Manchmal wäscht sie ohne Waschmittel. Manchmal vergisst sie, die Wäsche einzuschalten. Und faltet später die "frische", jedoch die de facto ungewaschene Wäsche wieder zusammen. Manchmal ist aber auch alles gut. 
Ein großer Teil ihrer Tage besteht manchmal aus Suchen. Und wenn ein Ding aufgetaucht ist, so sucht sie das nächste.
Manchmal weiss sie selber, dass sie vergisst. Aber auch sie redet es sich schön. Bagatellisiert. Verdenken kann ich es ihr nicht. In solchen Momenten bin ich ehrlich, aber nicht schonungslos. In den meisten anderen Momenten ist alles, wie es ist. Ich konfrontiere nicht. Ich diskutiere nicht, ich gehe mit ihr, trage ein Stück Alltag in unserem Zusammenleben. Lösche die Lichter, kontrolliere manche Stelle, wasche und falte erneut, nehme Geschenke an mich und verstaue für sie. 
Noch ist sie nicht allein, noch hat ihr Alltag Struktur, noch ist ihr Mann nahezu immer da. Aber das wird sich ändern. Vielleicht ganz bald, vielleicht ein wenig später. Ich fürchte mich sowieso vor dieser Zeit. 
Aber die Zeit danach fürchte ich wohl erst recht - in der Annahme, dass das Vergessen dann noch mehr Vergessen sein wird, als es heute bereits ist.

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